Nachdenken über

Würde

Würde, dieses Wort ist mir eigentlich nie ganz fassbar gewesen.
Vom Gefühl her nicht und über das reine Nachdenken schon gar nicht.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Ein wesentlicher Leitspruch unseres Grundgesetzes.
In wie vielen Pflegeleitbildern ist „Würde“ eines der wesentlichen Begriffe .
Immer hört es sich gut und richtig an.
Aber was ist damit gemeint ?
Was ist denn Würde, die Würde des Menschen?
Mir scheint, ich kann mir dies nur erschliessen durch Bilder.
Bilder aus Begegnungen.
Ich sehe eine junge, demente Frau vor mir, die mit aller Anstrengung versucht, allein zu essen, mit höchster Konzentration.
Unbeholfen, zart und irgendwie nackt.
Die Anderen sitzen um sie herum bei Tisch.
Alle spüren es genau : Hier muss jemand geschützt werden.
Jeder Blick der Anderen wird ihr Gefahr in ihrer Verletzlichkeit, jede behutsame Hilfestellung ein Angriff auf sie, auf ihr Anrecht, der Mensch zu sein, der sie ist, der sie in diesem Moment ist.
Auf ihr Anrecht, zu tun, auf ihre Weise zu tun.
Ohne Spott, ohne Eingriff, ohne Kritik.
Es geht um ihre Würde.
Ich lerne :
Würde wird immer dann spürbar, wenn sie bedroht ist.
Jemanden, der wehrlos ist, greifen wir nicht an, wir stellen ihn nicht bloss.
Wir werden Mit-wehrlos,ganz ohne unser Zutun.
Deshalb beschämt es uns, Zeuge zu werden.
Haben wir Menschen einen eingebauten Sensor für die Gefährdung von Würde?
Ich denke an Hunde, die sich auf den Rücken legen, um nicht angegriffen zu werden, an Fohlen, die eine bestimmte Bewegung mit dem Kiefer machen, um ihre Schutzbedürftigkeit zu signalisieren.
Was ist Würde?
Würde, ein Grundrecht des Menschen, allein, weil er Mensch ist, Teil unserer Gesellschaft.
Ein Recht, ohne unser Zutun, das nicht mit unserer Leistung, mit unseren Fähigkeiten im Zusammenhang steht oder erklärt werden kann.
Es greift tiefer .
Wir haben einen Sinn, ein Gespür für das ureigene Wesen unseres Gegenüber, wenn wir unserem Blick auf ihn Zeit lassen.
Wir können unser Gegenüber unter dem Blickpunkt der Unantastbarkeit seiner Würde anschauen.
Wenn wir unserem Blick erlauben, sich auf all das zu weiten, was dieser Mensch möglicherweise ist und war, was wir niemals werden ganz erfassen können.
Genau dieser Blick, ein geweiteter, stiller, sich Zeit lassender Blick, ist der Blick, den wir in der Begegnung mit hilfebedürftigen Menschen lernen können.
Wie mag diese Frau wohl als Kind gewesen sein ?
Wen hat sie geliebt?
Was hat sie begeistert?
Worüber hat sie geweint?
Wann war sie mutig?
Und der Blick auf den hilfebedürftigen Menschen fächert sich auf.
Vielleicht wird sie Begegnung -
Begegnung von Mensch zu Mensch.